Dass Arbeit wichtig ist, damit Menschen psychisch und physisch gesund sind, ist längst eine Binsenweisheit. Die verheerenden Folgen von Arbeitslosigkeit für das psychosoziale Gleichgewicht eines Menschen sind gründlich erforscht.
Diese Erkenntnisse scheinen jedoch nicht auf unsere Kinder angewandt zu werden. Was zu
früheren Zeiten bei uns eine Selbstverständlichkeit war und in anderen Kulturen nach wie vor ist, dass nämlich Kinder auch in und für die Familie mitarbeiten, dass Kinder diese „Arbeit“ für ihre
gesunde Entwicklung vielleicht sogar brauchen, ist in den aktuellen Erziehungsdebatten selten bedacht und in vielen Familien keine alltägliche Praxis.
Ich denke bei „Arbeit“ für Kinder nicht an „Kinderarbeit“: Nein, 16 Stunden in dunklen
Verließen, in denen Kinder in fernen Ländern glitzernde Pailletten auf Kleidung sticken, die wir hier dann zu Spottpreisen erwerben – das ist es nicht, was ich meine, wenn ich behaupte, dass
Kinder „Arbeit“ brauchen. Ich denke auch nicht an die Formen der Familienmitarbeit, die in meiner Kindheit noch üblich waren: die Eltern weisen an, was zu tun ist, die Kinder „haben zu folgen“
und „ohne Widerworte“ die Aufträge zu erledigen. Nein!
Ich denke an altersgerechte Aufgaben, deren Verteilung im Familienkreis besprochen wird. An Herausforderungen, deren Bewältigung die Kinder stolz macht und an denen sie die „nützliche Erfahrung, nützlich zu sein“ machen. Nicht nur an Aufgaben, die den Kindern selbst dienen (wie das eigene Zimmer aufräumen oder gute Schulleistungen erbringen), sondern an kleinere oder größere Arbeiten, die der sozialen Gemeinschaft, in der sie leben, zu Gute kommen und an denen sie sich bewähren können.
Gehen wir davon aus, dass ein Kind schon ab etwa 2 Jahren anfängt, kleine Dinge im Haushalt zu tun (und dafür auch Anerkennung bekommen zu wollen), dann hat es – sofern es darin nicht unterstützt wird und kleine Aufgaben ab ca. 4 Jahren nicht regelmäßig von ihm gefordert werden – wenn es in die Schule kommt, schon mehrere Jahre der „Arbeitslosigkeit“ hinter sich. Wenn es stimmt, dass dies ein Kind genauso destabilisieren kann wie einen Erwachsenen, dann liegt hierin vielleicht auch eine Ursache der vielen psychischen und körperlichen Erkrankungen und Defizite, die schon in Einschul- ungsuntersuchungen festgestellt werden? Und wenn die Jugendlichen dann in die Pubertät kommen, sind sie durch diese langen Jahre der Unterforderung tatsächlich schwer beeinträchtigt? Bei allen hirn- organisch erforschten pubertären Umbauprozessen stellt sich doch auch die Frage, warum noch vor etwa zwei Generationen die meisten Jugendlichen mitten in der Pubertät mit einer Lehre beginnen konnten – und sie daran offensichtlich ihr „Hirnumbau“ nicht gehindert hat?
Beate Allmenröder, 2014