Auf dem Fahrradweg muss ich scharf bremsen: eine telefonierende, junge Frau schiebt mir ihren Kinderwagen direkt vors Rad. Sie nimmt den Beinahe-Unfall, den sie verursacht, nicht einmal wahr. Ein Bekannter beobachtet die Szene und begrüßt mich. „Schön, dass ich Dich treffe! Und dann auch gerade in dieser Situation!“ sagt er grinsend. „Ich wollte Dich nämlich schon anrufen. Denn ich habe da noch ein wichtiges Thema für Deine Zeitungskolumne...“ Ich schaue ihn fragend an. Er nickt der jungen Frau hinterher, die völlig unbeeindruckt ihres Weges zieht: „Genau darum geht es: Familie, Kinder, Smartphones.“
„Verloren unter 100 Freunden“? (Foto: M. Ihle)
„Was soll ich denn darüber schreiben? Welche Erfahrungen macht Ihr denn in der Klinik damit?“, frage ich. Thomas arbeitet als Therapeut in einer psychiatrischen Klinik für Kinder- und Jugendliche.
„Viele der Jugendlichen sind 'Verloren unter 100 Freunden', würde ich sagen. Kennst Du dieses Buch von Sherry Turkle?“ Ich schüttele den Kopf, so dass er weiter spricht: „Es beschreibt ziemlich genau, was wir bei unseren jungen Patienten beobachten: in Medien abgetauchte junge Menschen. Sie sind in sozialen Netzwerken unterwegs und dennoch beziehungslos oder zumindest beziehungsgestört. Kaum noch in der Lage, sich in andere hinein zu versetzen. Vor lauter Medien spüren sie weder sich selbst noch andere. Was ihnen komplett fremd ist, ist so etwas wie schöpferische Einsamkeit, Langeweile, aus der etwas Neues entsteht.“ „Und? Wie geht Ihr damit um?“ „Wir nehmen den Kindern und Jugendlichen die Smartphones ab und reglementieren die Mediennutzung. Am Abend dürfen sie für eine begrenzte Zeit ins Internet. Statt Smartphones und PCs gibt es Gespräche, Gruppentrainings, Ergotherapie und Sport. Das passt zu Deinen Texten: Selbstwirksamkeitserfahrungen im realen Leben – das halten wir für einen wichtigen Therapieansatz.“
„Und wie macht Ihr es mit Euren eigenen Kindern?“, will ich nun wissen. Meine Kinder sind ja in der Vor-Smartphone-Zeit groß geworden. „Gute Frage. Wir versuchen zu Hause auch, die Smartphone-Nutzungszeiten klar einzuschränken. Wenn wir als Familie zusammen sind, sind alle Handys aus. Abends müssen beide Kinder ihre Smartphones abgeben. Wir achten darauf, dass es auch immer wieder Zeiten gibt, in denen sie mit sich selbst alleine ohne ihre Handys sind. Selbst, wenn sie erst einmal über Langeweile maulen. Außerdem legen wir ihnen nahe, sie nicht mit in die Schule zu nehmen.“ Da staune ich: „Damit seid Ihr aber Ausnahme-Eltern, oder?“ „Na, ja, durch meinen Beruf weiß ich wahrscheinlich mehr als andere, wie sehr das dauernde „Multi-Tasking“ die Fähigkeit zu denken einschränkt. Es macht nachweislich dümmer und zerstreuter“. „Aber Smartphones haben ja auch viele Vorteile“, gebe ich zu bedenken. „Ja, klar – und meistens nehmen unsere Kinder sie auch mit in die Schule. Aber wir versuchen, sie zum bewussten Umgang anzuregen“. „In der Schule erlebe ich auch manchmal Jugendliche, die bewusst keine Smartphones haben – da entwickelt sich vielleicht ein Gegentrend?“, gebe ich eine Beobachtung wieder. „Das wäre schön! Ich musste mich nämlich in der Schule meiner Kinder mit einem Lehrer auseinandersetzen, der mit seiner Klasse über Facebook kommuniziert hat. Ich finde, das geht allein schon deswegen nicht, weil niemand gezwungen werden sollte, in diesen Netzwerken Mitglied zu sein.“
Da sehen wir die junge Frau mit ihrem Baby zurückkommen. Das Baby schreit, aber die Frau telefoniert immer noch! „Eine Schülerin sagte mir neulich: Mit meiner Mutter kann ich nicht sprechen, die ist immer in Facebook!“, erzähle ich angesichts dieser Szene. Auf einmal fängt Thomas an zu lachen: „Kennst Du 'den kleinen Meisenmann' von Helge Schneider? Das hat er neulich bei seinem Konzert in Wetzlar gesungen: Ein Adler fliegt über der Fußgängerzone und entdeckt unten eine Frau mit Kinderwagen. Der Adler stürzt nieder - direkt in den Kinderwagen und klaut dem Baby das Brötchen, an dem es gerade nuckelt. Und die Mutter? Die merkt es überhaupt nicht, weil sie nur auf ihr blödes Smartphone glotzt. – Eigentlich ist das ja überhaupt nicht witzig, aber...“ Thomas kichert und steckt mich damit an: „Manchmal ist das wirkliche Leben fast so absurd wie Helge Schneiders Lieder.“
Beate Allmenröder