Vor mehr als 10 Jahren begegnen mir im Unterricht eines Berufsvorbereitungsjahres Jurij, Andrej und Viktor, drei
16-jährige Russlanddeutsche, erst kurz in Deutschland. Liebenswerte Burschen, aber unruhig und laut. Als ich sie nach ihrem Leben in Kasachstan frage, ist Ruhe in der Klasse. Zunächst wollen sie
nichts erzählen: „Das interessiert hier sowieso keinen“. „Doch, mich interessiert es, und Ümit, Marcel und Ali auch.“ Wir waren gerade darauf gekommen, dass uns über alle nationalen Grenzen
hinweg unsere bäuerlichen Wurzeln verbinden. Zögernd fängt Jurij an. Er erzählt, wie er Tage und Nächte mit seinem Onkel unterwegs gewesen sei, um die riesige Kuh-Herde zu hüten. Seine Augen
beginnen zu leuchten.
„Du hast ihn die ganze Strecke alleine durch den Wald radeln lassen? Das ist doch gefährlich!“ (Foto: M. Ihle)
In unserem engen Klassenraum entstehen Bilder der Weite von Taiga und Tundra und wir sehen einen glücklichen auf einem Pferd dahin galoppierenden Jungen vor uns. Die drei kommen ins Schwärmen: wie sie Saft aus Birken gewonnen, Nächte an Lagerfeuern verbracht und sich mit ihren Freunden an Wochenenden am Fluss getroffen hätten mit Gitarre und Akkordeon... Und dann die nüchterne Rückkehr in die deutsche Realität „Wenn Du hier einen Nagel in eine Birke schlägst, kommt sofort die Polizei.“
Seit diesem Gespräch wundert es mich nicht mehr, dass vergleichsweise viele junge Russlanddeutsche in harte Drogen abrutschen: ein anderes Abenteuer scheint ihnen Deutschland nicht zu bieten.
Auch wenn sich „Migrationshintergrund“ irgendwie wie „schwere Behinderung“ anhört, haben mich diese Schüler gelehrt, dass Einwanderer viele Erfahrungen, Begabungen, Talente, Fähigkeiten und Ressourcen mitbringen. Wir müssten uns nur dafür interessieren!
Indem wir den - sonst oft im Dunklen bleibenden – Migrations-„Hintergrund“ aufgehellt haben, ist mir durch diese drei jungen Russlanddeutschen noch einmal mehr deutlich geworden, wie sehr Kinder Freiheit, Bewegung und Abenteuer brauchen.
Aber wie kann ich dies meinen Söhnen im „engen Deutschland“ (so hatten es die drei formuliert) ermöglichen?
Das Aha-Erlebnis dazu habe ich kurze Zeit später, als ich bei meiner Freundin Karola zu Besuch bin. Kurz vor dem Abendessen stürmt ihr 12-jähriger Sohn Lukas herein: außer Atem und fröhlich. „Ich habe ein Wildschwein mit 8 Jungen gesehen!“, platzt er heraus. „Wo warst Du denn?“ frage ich ihn verwundert. „Bei Felix“. Ich weiß, dass sein Freund Felix im 11 km entfernten Dorf wohnt. „Hat der Wildschweine?“ „Nein, die Wildschweine habe ich im Wald gesehen. Die sind mir direkt vorm Fahrrad über den Weg gelaufen. Erst hab ich einen Schreck gekriegt. Aber sie sind ganz schnell im Wald verschwunden.“ Erstaunt wende ich mich an Karola: „Du hast ihn die ganze Strecke alleine radeln lassen? Das ist doch gefährlich!“ Karola ist eine coole Mutter: „Was soll im Wald gefährlich sein?“ „Man hört so viel…“, will ich einwenden, aber da fährt sie schon fort: „Die Menschen fürchten sich vor den falschen Dingen! Wie viele Kinder sterben im Straßenverkehr und wie viele werden im Wald gekidnappt? Trotzdem denken viele Eltern, es sei ungefährlicher, sie mit dem Auto zu bringen.“ Jetzt ist sie nicht mehr zu stoppen: „Außerdem zählt Bewegungsmangel bei uns zu den Haupttodesursachen. Täte Eltern und Kindern gut, das Auto stehen zu lassen. Weißt Du eigentlich, wodurch die meisten Kinder zu Fuß auf ihrem Schulweg verunglücken? Durch Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto bringen! Habe ich gerade in der Zeitung gelesen. Da stand auch, dass schon Kindergartenkinder, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kommen, klüger und gesünder sind, als die, die mit dem Auto gefahren werden.“
Die kasachischen Cowboys Juri, Andrej und Viktor und der Radfahrer Lukas haben damals bewirkt, dass bei uns das Muttertaxi in der Garage blieb. Schnell fanden meine Söhne Gefallen an der Freiheit, die ihnen das Radeln ermöglichte. Als sie dann den Führerschein hatten und ich ihnen manchmal die Benutzung des Autos anbot, hielten sie mir Vorträge über Glückshormone, die der Körper bei Bewegung produziert, über gesundheitliche und ökologische Vorteile des Fahrradfahrens und schwärmten mir von wunderbaren Naturerlebnissen vor. Selbst Glatteisnächte, Überschwemmungen auf dem Schulradweg oder nahende Gewitterfronten hielten sie selten vom Radeln ab. Abenteuer im „engen Deutschland“! Für diese „Suchtprävention“ bin ich den drei russlanddeutschen Jungs bis heute dankbar.
Beate Allmenröder